Volker Schlöndorff (* 31. März 1939 in Wiesbaden)
deutscher Filmregisseur, Drehbuchautor und Filmproduzent, der vor allem für seine Literaturverfilmungen bekannt ist. 1980 wurde sein Spielfilm Die Blechtrommel mit dem Oscar in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film ausgezeichnet.
Danzig, 1924. In der Familie Matzerath kommt ein Kind zur Welt. Vom Augenblick seiner Geburt an ist der kleine Oskar ein überaus frühreifes, hellhöriges Bürschchen. Schon in den Armen seiner Mutter beginnt der Säugling, seine Umwelt mit großer Skepsis zu betrachten. Zu seinem dritten Geburtstag bekommt Oskar eine Blechtrommel geschenkt. Und an diesem Tag beschließt er aus einer grundsätzlichen Verweigerungshaltung heraus, sein Wachstum einzustellen. Geistig und männlich entwickelt er sich sehr wohl weiter, doch seine körperliche Erscheinung schafft von diesem Tag an automatisch eine gewisse Distanz zwischen Oskar und der Welt der "Erwachsenen". Auf seiner hämmernden Blechtrommel und mit seiner Fähigkeit, Glas zu zersingen, artikuliert er seinen Protest gegen die verlogene, intrigante Welt der Erwachsenen.
Dabei hat der junge Mann, der auf seine Umwelt stets wie ein unbedarftes Kind wirkt, etwas ebenso Genialisches wie Diabolisches an sich. Er treibt seine beiden mutmaßlichen Väter in den Tod, macht Karriere als Frontkünstler für die Truppen der Nazis – und bleibt dabei doch stets höhnisch und distanziert. Erst nach Endes des Zweiten Weltkriegs beschließt er, sein Wachstum fortzusetzen, um künftig mitbestimmen zu können.
Sehr laut getrommelt
„Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich…“ So beginnt das fulminante Buch von Günter Grass. Seine „zerrspiegelartige Groteske und krasse Fantastik“ haben diesem Roman zu Weltruhm verholfen - was sich von dem Film nicht so ohne weiteres sagen lässt. Bei aller handwerklichen Meisterschaft, die Volker Schlöndorff hier zeigt, fehlt doch das Besondere, das Idiom des Erzählers, der „keine Tabus kennt“. - Heute, fast 40 Jahre nach der Premiere, fällt auf, dass die Besetzung mit einem zwölfjährigen, wachstumsgehemmten Jungen als dem „Blechtrommler“ irritiert. Wurde der Junge benutzt? Vor allem bei der Sexualisierung, die Schlöndorff nicht unterschlägt, fragt man sich, ob der Vater, der mit am Set war, sich nicht hätte schützend vor seinen Sohn stellen müssen. Ist nicht geschehen, so liegt also der Zwölfjährige im Bett mit der Liliputanerin. Von anderen Szenen ganz abgesehen. Sichtweisen ändern sich über die Jahrzehnte, im Zusammenhang mit den jüngsten Missbrauchsskandalen scheint heute der Umgang des Regisseurs mit seinem Hauptdarsteller fragwürdig. Zwar sind einzelne Szenen wunderbar gelungen - als der Jude Markus (Charles Aznavour) der still angebeteten Agnes (Angela Winkler) hinterher schaut, als sie im Gewimmel der Straßen in Danzig verschwindet und er doch genau weiss, dass sie sich jetzt mit ihrem Freund in einem Hotelzimmer trifft. Immer Donnerstags. Berta Drews als die alte Anna ist wie immer schon von der Physiognomie großartig. Wenn sie auftritt, kommt Spannung auf. Mario Adorf natürlich als der hinter das Licht geführte Alfred Matzerath, dessen Vaterschaft infrage steht. Alles zusammengenommen hat dieser Film es zurecht in die Liste der 100 besten deutschen Filme geschafft und seine Qualität soll beileibe nicht kleingeredet werden. Aber der Einwand bleibt, dass Grass hier eine groteske Figur erdacht hat, die in ihrer schillernden Vielseitigkeit genial angelegt war, die sich aber einer Visualisierung eher zu entziehen scheint.
Hans C. Blumenberg, Die Zeit, 04.05.1979
Die Blechtrommel also, "The Tin Drum", der erste Welterfolg der deutschen Nachkriegsliteratur, zwanzig Jahre danach schon ein Klassiker. Ein "Blechtrommel"-Film: das musste wohl so kommen, auch wenn sich Günter Grass lange gesträubt hat, diesen unverfilmbarsten aller Romane für das Kino freizugeben. Einen amerikanischen Produzenten, der allen Ernstes vorschlug, den zwergwüchsigen Oskar Matzerath – des Profites wegen – in einen Helden von normaler Statur zu verwandeln, setzte er kurzerhand vor die Tür.
Ein gewisser Irrwitz gehört indessen wohl dazu, wenn jemand sich anschickt, dieses vielköpfige Monstrum aus realistischer Erzählkunst und ausufernder Phantastik, Parabel und Groteske, diesen Entwicklungsroman, der alle Entwicklungsromane verhöhnt, auf die Leinwand zu bringen. Literaturverfilmungen, auch die besseren, gleichen Rückzugsgefechten: starke Verluste, unsichere Aussichten, missvergnügtes Publikum. Die optisch rekonstruierte Realität des Romans hält kaum jeder zweiten Realität im Kopf des Lesers stand. Literarische Vielfalt schrumpft zusammen auf eine eindimensionale Bilderwelt, die ihren eigenen Reichtum in den Fesseln eines anderen Mediums kaum zu entfalten mag. Selten reicht es zu mehr als zu einer mehr oder weniger respektvollen Illustration. Filme, die ihren literarischen Vorlagen eine neue Perspektive hinzugefügt haben, sind selten: Luchino Viscontis "Der Leopard" ist ein Beispiel, Jean-Marie Straubs "Nicht versöhnt" (weniger nach als gegen Heinrich Bölls Roman "Billard um halb zehn") ein sehr anderes.
Ein Stoff für Fellini?
Wer mutig oder verrückt (oder beides) genug ist, ausgerechnet "Die Blechtrommel" verfilmen zu wollen, darf sich von einem solchen Lamento natürlich nicht beeindrucken lassen. Er wird mit dem Vorwurf rechnen müssen, sein Film sei – im besten aller möglichen Fälle – überflüssig, und überflüssig finde ich den "Blechtrommel"-Film in der Tat. Aber nicht schlecht, im Gegenteil. Daß mancher Germanist sich mit Grausen wenden wird, muß man ihm hoch anrechnen. Daß mancher Leser etliche Figuren (Jan Bronskis Frau, Herbert Truczinski) und Episoden (Rasputin) und dazu das ganze Dritte Buch (über Oskars Nachkriegsabenteuer) vermissen wird, kann man leicht verschmerzen. Daß der Rahmen der Erzählung (des Trommlers Räsonnement: in der Heil- und Pflegeanstalt) auf der Strecke blieb, war unvermeidlich. Allzu viele, allzu umständlich literarisch konstruierte Rückblenden kann ein Kino-Film nicht verkraften. Auch Günter Grass, der das Unternehmen mit aufmerksamen Interesse begleitete, der die Dialoge durchsah und überarbeitete, bestand auf eine lineare Erzählstruktur.
Wer aber wäre in der Lage, "Die Blechtrommel" zu inszenieren? Fellini wohl, wie Grass ein Mann von barocker Vorstellungskraft, wie jener ein Meister in der Schilderung derben, schwitzenden Kleinbürgerlebens, dazu auch mit einer intimen Haßliebe zum Katholizismus geschlagen. Ein Film wie "Amarcord" kommt dem Geist der "Blechtrommel" sehr nahe. Aber Fellini macht Fellini-Filme, er braucht Grass so wenig wie Grass Fellini braucht, und hätte er sich auf den femden, deutschen Stoff eingelassen, er hätte ihn sich bis zur Unkenntlichkeit anverwandelt: eine ebenso reizvolle wie unmögliche Vorstellung.
Ein deutscher Regisseur also musste her, und möglichst einer, der die stilistische Fülle, die sinnliche Kraft des Romans nicht einebnete, der erfahren und selbstbewusst war, sich von dem erdrückenden Ruhm der "Blechtrommel" nicht einschüchtern zu lassen, der andererseits seine eigene Persönlichkeit nicht so ungebührlich in den Vordergrund drängte, dass Oskar, der Trommler, seine Identität als Grass"sche Kunstfigur verlieren würde. Gesucht wurde ein Regisseur mit vielen Eigenschaften.
Volker Schlöndorff ist die ideale Besetzung für diesen durchaus nicht nur dankbaren Part: ein Mann, der sich auskennt mit der filmischen Adaption deutscher Literatur (Musils "Törless", Kleists "Kohlhaas", Brechts "Baal", Bölls "Katharina Blum"); neben Fassbinder zweifellos der perfekteste Kino-Handwerker hierzulande, aber kein Regisseur, dessen Filme sich zu einem unverwechselbaren Schlöndorff-Stil addieren lassen. Volker Schlöndorff, der sein Metier in Frankreich lernte als Assistent von Jean-Piere Melville und Louis Malle, ist kein Fall für das Autoren-Kino. In seinem Tagebuch des "Blechtrommel"-Films, einem lesenswerten Bericht über ein zweijähriges Abenteuer (erschienen in der Sammlung Luchterhand), notierte er unter dem 20. Oktober 1978: "Mit Peter Schneider und später mit Mario habe ich mich heute gefragt, worin Regietätigkeit in meinem Falle eigentlich besteht. Zuhören, zuschauen, Vertrauen ausstrahlen, Kontinuität wahren, Vorschläge anhören und einarbeiten, zusammenhalten, was sich einmal durch lange Auswahl und Vorarbeit zusammengefügt hat: Darsteller, Szenen, Schauplätze. Wenig Kreatives, eigentlich nur Ordnendes und Wahrendes. Keine charismatische Persönlichkeit – doch was würde eine solche aus der "Blechtrommel" machen?"
Was Schlöndorff daraus macht, 150 Minuten lang, kann sich sehen lassen. "Dieser aus phantasmagorischen Kaskaden sich ergießende surreale Bilderbogen hört nie, auf keiner Seite, auf, vergnüglichen Spaß zu bereiten", hieß es in der ZEIT-Serie "Hundert Bücher" neulich über "Die Blechtrommel", und Vergleichbares lässt sich auch über den Film sagen, trotz aller Einschränkungen gegen die Notwendigkeit des Unternehmens. Volker Schlöndorff fügt der "Blechtrommel" nichts Neues, Originelles hinzu, doch die Verluste halten sich in Grenzen.
Das Buch der unzähligen disparaten Stile und Stimmungslagen, übersetzt Schlöndorff, der Regisseur ohne Stil, auf einleuchtende Weise in eine locker gefügte Nummernrevue. Von der hastigen, gleichwohl lustvollen Zeugung unter den vier weiten Röcken der Anna Bronski auf einem kaschubischen Kartoffelacker bis zum erzwungenen Aufbruch des überlebenden Teils der Bronski/Matzerath-Sippe 1943 im Güterzug von Danzig in den Westen reiht sich, durch gelegentliche Off-Kommentare des Erzählers Oskar nicht übertrieben streng gegliedert, eine Episode an die andere. Den "großen epischen Atem", den schon der Grass-Roman glücklicherweise nicht besaß, wird man hier vergeblich suchen. Die Erzählweise ist eher fragmentarisch, fast eine Folge von höchst unterschiedlichen Kurzfilmen, deren Kontinuität nur durch die wiederkehrenden Darsteller gewahrt bleibt. Beschaulicher Naturalismus hat keine Chance sich einzuschleichen, allzu drastisch prallen Horror- und Heimatfilm, Slapstick und heroisches Drama, kleinbürgerliches Satyrspiel und politische Satire aufeinander: ein schönes Chaos.
Zirkus Schlöndorff
Horrorfilm: Oskars Geburt, aus der Perspektive des Fötus gefilmt, der dem Mutterleib entrissen wird. Blut, Schleim; Oskars Treppensturz als Dreijähriger, ebenfalls mit der subjektiven Kamera aufgenommen. Schwindelgefühl wie bei Hitchcock; der verweste Pferdekopf, von fetten Aalen wimmelnd. Ekelbilder wie bei Polanski.
Heimatfilm: Weites Land, große Totalen am Anfang. Der Danziger Markt. Caspar-David-Friedrich-Stimmungen am Meer. Und ein Italo-Western-Finale: Zu der wunderbaren Musik von Maurice Jarre, die episch ist und satirisch, fährt der Güterzug einem Sergio-Leone-Horizont entgegen. Spiel mir das Lied vom Tod – Es war einmal der wilde Osten.
Slapstick: Immer wieder. Erst die beiden Keystone-Cops, die den Joseph Koljaiczek nicht unter Anna Bronskis Röcken finden. Die Schulklasse des Fräuleins Spollenhauer, dem Oskar die Brillengläser zersingt: wie Oskar – die beste Szene des Films – eine Parteiversammlung in einen Walzertraum verwandelt.
Heroisches Drama: Die Verteidigung der ponischen Post. Viel Feuerwerk, Oskar spielt Skat mit einem Sterbenden. Eine Hitlerrede über dem abendlichen Panorama von Danzig.
Satyrspiel: Fellini-Zwerge an der Westfront, Tanz auf dem Bunker; Kurchen Matzeraths Zeugung auf dem häuslichen Sofa, höhnisch von einem Zarah-Leander-Lied begleitet (der Film ist oft grob, geschmacklos, spekulativ, durchaus im Sinne von Grass. Jene von Enzensberger in der "Blechtrommel" entdeckte "verbotene Sphäre, wo sich Ekel und Sexualität, Tod und Blasphemie begegnen" behandelt er durchaus drastisch).
Politische Satire: Der stupide Hitlerismus des Alfred Matzerath, der gewöhnliche Größenwahn des Kleinbürgertums, personifiziert auch vom Trompeter Meyn und vom kurzbehosten, heimlich schwulen Pfadfinderführer Greff. Böse, mitleidlose Karikaturen: Otto Sander als Meyn, mehr noch Heinz Bennent als Greff, leider ohne die Tragik der Figur.
Schlöndorff träumte schon immer davon, Zirkusdirektor zu werden. Hier darf er es endlich sein, kann alle Elemente wild mischen, alle Tricks probieren. "Die Blechtrommel" – ein Kraftakt. Und der Zirkusdirektor Schlöndorff, ein generöser Mann, der andere Talente neben seinem eigenen duldet, engagierte erstklassige internationale Zelebritäten für seine Gala-Schau: den melancholischen Charles Aznavour als Spielzeughändler Markus, die fette Andrea Ferréol (die nicht sehr gut ist) als Lina Greff, dazu Fellinis Maskenbildner, Tatis Cutterin, David Leans Komponisten, Luis Buñuels Drehbuchautor. Im Zirkus Schlöndorff dürfen sie alle zeigen, was sie können, und offensichtlich hat er es verstanden, sie alle für die Arbeit zu begeistern. Es gibt Perfektion zu sehen, aber nur selten Routine. Oskar Matzerath hat zwei Väter, dieser Film hat viele.
Die vielen teuren Profi-Schauspieler (am besten gefielen mir Katharina Thalbach als Maria Matzerath und Berta Drews, die am Schluß eine unglaubliche Großaufnahme hat, als Großmutter Bronski) besitzen natürlich nicht die Spur einer Chance gegen den einzigen (Noch-)Nicht-Schauspieler im Ensemble: David Bennent, zwölf Jahre alt, der wachstumsgestörte Sohn des Schauspielers Heinz Bennent, der mit dem Oskar Matzerath nicht irgendeine, sondern seine eigene Rolle gefunden und dargestellt hat. Ein Kind, das anders ist als andere Kinder und bald auch schon kein Kind mehr (aber eben auch kein Monstrum), das die Welt der Erwachsenen mit seinen weitaufgerissenen Augen scharf beobachtet, bloßlegt, unter Tische und durch Spiegel schaut: ein beunruhigend passiver Anarchist, dessen Haß und dessen Stimme dennoch gewaltig sind.
Man hat Angst vor ihm in diesem Film, man fühlt sich ertappt, aber man fühlt auch mit ihm, wenn sich sein Wüten und seine Begierden als maßlos erweisen für den schmächtigen Körper: David Bennents Oskar ist keineswegs der Freak im Zirkus Schlöndorff, ein schreckliches Kind zwar, dessen Blick man nicht so rasch vergessen wird, aber eben doch ein Kind: Nur so lässt sich der Trommler der Verweigerung, der Prophet der reinen Unvernunft im Kino darstellen. Die selbstbewußte Unvernunft des Films wird ihm gerecht.
© Hans C. Blumenberg